Berlin, 16. Januar 2012 – Etwa ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland erkrankt binnen eines Jahres an psychischen und psychosomatischen Leiden wie Depressionen, Ängsten und körperlichen Beschwerden ohne Befund. Die Versorgung der Betroffenen gelangt mitunter an ihre Grenzen. Welchen Beitrag Fachärzte für Psychosomatik, Psychiater und Psychologen dabei jeweils leisten, zeigt ein aktuelles Gutachten. Experten der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) stellten erste Ergebnisse heute in Berlin vor. Sie sehen wachsenden Bedarf vor allem im ambulanten Bereich. Psychosomatische Fachärzte seien nach dem Hausarzt der erste Ansprechpartner bei psychischen Störungen, betont die DGPM.
Die Autoren des Gutachtens, Professor Dr. med. Johannes Kruse, Universität Gießen/Marburg, und Professor Dr. med. Wolfgang Herzog, Heidelberg, untersuchen im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) die Effizienz der ambulanten Versorgung von Patienten mit psychischen Störungen. Dafür werteten sie KBV-Daten aus und befragten Patienten, an welche der drei Fachgruppen diese sich wenden würden, wenn sie an einer psychischen oder einer psychosomatischen Erkrankung leiden. „Die Ergebnisse sprechen für eine hohe Akzeptanz der psychosomatischen Medizin und ärztlichen Psychotherapie in der Bevölkerung“, bemerkt Professor Herzog, Sprecher der leitenden Hochschullehrer für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in der DGPM: Sowohl bei Depressionen als auch bei Schmerzen ohne körperliche Ursache würden sich 25 Prozent, beziehungsweise 23 Prozent der Befragten in der spezialisierten Versorgung zuerst an den Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie wenden. Insgesamt sind depressive Störungen, Angst- und Anpassungsstörungen der häufigste Behandlungsgrund. Menschen mit somatoformen Störungen – körperliche Beschwerden ohne körperliche Ursache – erreicht das dreisträngige Versorgungssystem bestehend aus psychosomatisch-psychotherapeutischer, psychiatrisch-psychotherapeutischer und psychologisch-psychotherapeutischer Versorgung dem Gutachten zufolge nur unzureichend.
Vor allem im ambulanten Bereich erwarten die Gutachter wachsenden Versorgungsbedarf: „Untersuchungen gehen davon aus, dass innerhalb eines Jahres bis zu 30 Prozent der Bevölkerung an einer psychischen Störungen erkranken“, so Professor Dr. med. Johannes Kruse, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin. Engpässe zeigten sich den Ergebnissen zufolge früh: Patienten warten vier Wochen bis zweieinhalb Monate auf ein Erstgespräch bei einem ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten. Schon heute stellen psychische Erkrankungen eine erhebliche gesellschaftliche Belastung dar: Im Jahr 2010 gingen laut DAK-Gesundheitsreport 2011 über 12 Prozent des Krankenstandes darauf zurück. Mit 28,9 Tagen sind damit vergleichsweise lange Ausfallzeiten verbunden. Psychische Erkrankungen sind überdies mit 38 Prozent die häufigste Ursache für den vorzeitigen Renteneintritt. „Unser ambulantes Versorgungssystem muss diese Patienten früh auffangen, denn lange Wartezeiten verschlimmern die Erkrankung und die Lebensqualität“, betont Herzog.
Die Analyse der KBV-Daten gibt zudem Hinweise auf die unterschiedlichen Therapieschwerpunkte der drei Fachgruppen: Zwei bis vier Prozent der kassenärztlichen Patienten in Deutschland würden demnach ambulant psychotherapeutisch oder psychosomatisch behandelt. Dies sind meist mehrfach und länger Erkrankte mit überdurchschnittlich hoher Krankheitslast. Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie psychotherapeutisch tätige Ärzte behandeln ihre Patienten überwiegend mit Psychotherapien entsprechend der Leitlinien. „Dadurch gestalten sich die Konsultationen langfristiger und höher frequent, weshalb wir zwangsläufig weniger Patienten als etwa Neurologen oder Psychiater behandeln“, sagt Kruse. Die psychosomatische Medizin leiste damit einen zeitintensiven Beitrag in der Versorgung besonders schwer psychisch Kranker.
„Das Gutachten zeigt, dass jede der drei Versorgungssäulen, die psychosomatisch-psychotherapeutische, die psychiatrisch-psychotherapeutische und die psychologisch-psychotherapeutische, einen wichtigen spezifischen Beitrag zur Versorgung psychisch kranker Menschen in Deutschland leistet. Da ist es wichtig, eine eigene Bedarfsplanung auch für das Fachgebiet der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie festzuschreiben“, fordert Professor Dr. med. Wolfgang Senf, Vorsitzender der DGPM. Die Bedarfsplanung legt fest, wie viele Vertreter einer Facharztgruppe in einer Region für eine ausreichende Versorgung vorhanden sein müssen. Bisher differenziert diese nicht zwischen Fachärzten für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und den anderen psychotherapeutischen Arztgruppen.
Quelle: Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie, Pressestelle